Gerald Grabherr / Barbara Kainrath / Thomas Schierl (Eds.)
Relations Abroad
Brooches
and other elements of dress
as sources for reconstructing
interregional movement
and group boundaries
from the Punic Wars to the decline
of the Western Roman Empire
Proceedings of the International Conference
from 27th−29th April 2011 in Innsbruck
Innsbruck 2013
IKARUS
INNSBRUCKER
KLASSISCHARCHÄOLOGISCHE
UNIVERSITÄTSSCHRIFTEN
Band 8
Gerald Grabherr / Barbara Kainrath / Thomas Schierl (Hrsg.)
Verwandte in der Fremde
Fibeln und Bestandteile der Bekleidung
als Mittel zur Rekonstruktion
von interregionalem Austausch
und zur Abgrenzung von Gruppen
vom Ausgreifen Roms während des
1. Punischen Krieges bis zum Ende des
Weströmischen Reiches
Akten des Internationalen Kolloquiums
Innsbruck 27. bis 29. April 2011
Innsbruck 2013
IKARUS 8
Gerald Grabherr
Barbara Kainrath
Institut für Archäologien, Universität Innsbruck
Thomas Schierl
Römisch-Germanische Kommission des Deutschen Archäologischen Instituts, Frankfurt
Gedruckt mit Unterstützung der Fördermittel des Vizerektorats für Forschung sowie der
Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Innsbruck, der Kulturabteilung des
Landes Tirol und der Anton Rauch GmbH&CoKG.
© innsbruck university press, 2013
Universität Innsbruck
1. Aulage
Alle Rechte vorbehalten.
Redaktion: Gerald Grabherr, Barbara Kainrath, Thomas Schierl
Layout: Gerald Grabherr, Barbara Kainrath
Herstellung: Athesia-Tyroliadruck GmbH, A-6020 Innsbruck, Exlgasse 20
www.uibk.ac.at/iup
ISBN: 978-3-902811-99-8
Inhaltsverzeichnis
● Vorwort
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
7
● Programm
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
8
● Thomas Schierl
Relations Abroad − Verwandte in der Fremde?
.
.
.
.
.
11
● Lindsay Allason Jones
Missing People, Missing Brooches
.
.
.
.
.
23
.
.
.
.
33
● Marko Dizdar/Asja Tonc
Finds of ibulae from 1st century BC in Croatia:
Trade and exchange between Eastern Alps, the Danube and
the northern Adriatic area before and during Roman conquest
.
.
.
49
● Thomas Schierl
Krieg und Mobilität − Hispanien und Mitteldeutschland
zwischen später Republik und frühem Prinzipat
.
.
.
.
77
● Anna Haralambieva
Aucissaibeln mit Inschriften aus den Provinzen Moesia inferior und Thracia
.
101
● Gabriele Rasbach
Zuhause in der Fremde − Die Fibelfunde aus der
römischen Siedlungsgründung in Waldgirmes an der Lahn .
.
.
.
109
● Eckhard Deschler-Erb
Fibeln aus Augsburg-Oberhausen
.
.
.
127
● Bernd Steidl
Die Augenibeln Almgren 45−46 in Raetien und den Nordwestprovinzen.
Eine Sachform als Spiegel historischer Vorgänge? .
.
.
.
.
153
● Kristian Elschek
Ausgewählte römische Fibeltypen vom slowakischen Marchgebiet
im Limesvorland von Carnuntum und ein neues germanisches Fürstengrab
der „Lübsow-Gruppe“ von Zohor
.
.
.
.
.
.
.
177
● Thomas Maurer
Spezialitäten aus Südhessen? Zwei außergewöhnliche Fibeln von einem
vorlavischen Militärstützpunkt bei Groß-Gerau − Wallerstädten (Hessen/D)
.
201
● Stefan Leitner/Viktoria Färber
Beobachtungen zur Formenvielfalt des Fibeltyps Jobst 4F .
.
.
.
211
● Szilvia Bíró
Fibeln aus einer dörlichen Siedlung in Pannonien .
.
.
.
247
.
.
● Ursula Rothe
Die norisch-pannonische Tracht − gab es sie wirklich?
.
.
.
.
.
.
● Frances McIntosh
The Wirral brooch − a rural and regional brooch type
.
.
.
.
257
● Fraser Hunter
Roman brooches around and across the British limes
.
.
.
.
269
● Romana Erice Lacabe
Drei Fibeln als Fremdstücke im mittleren Ebrotal (Aragón, Spanien)
.
.
281
● Gerald Grabherr
Identität oder Technologie − Scharnieribeln im zentralen Alpenraum
.
.
299
● Wolf-Rüdiger Teegen
Spätantike Ringibeln mit Fußansatz aus Trier/Augusta Treverorum/Treveris
als Mobilitätsanzeiger .
.
.
.
.
.
.
.
.
317
● Anton Höck
Zu den Ringibeln mit seitlich aufgerollten Enden .
.
.
333
.
.
401
● Maurizio Buora
Zwiebelknopfibeln des Typs Keller 6: Zur Verbreitung und status quaestionis
.
427
● Adressenverzeichnis der Autoren .
.
447
.
.
● Martina Paul
Übergangsform Scharnierarm-/Zwiebelknopfibeln Typ Richborough
und Gürtelschnallen Typ Intercisa − Trachtzubehör des späten 3. Jhs.
aus Augusta Vindelicum/Augsburg .
.
.
.
.
6
.
.
.
.
.
Programm des internationalen Kolloquiums „Verwandte in der Fremde? − Relations Abroad“
International Conference on Fibulas In the Roman Empire [FIRE 1conference]
27. bis 29. April 2011
Zentrum für Alte Kulturen
Universität Innsbruck, Langer Weg 11
Mittwoch/Wednesday 27. April 2011
09.00 Begrüßung durch den Dekan der phil.-hist. Fakultät Prof. Dr. Klaus Eisterer
09.15 Einführung: Gerald Grabherr und Thomas Schierl
09.30 Ursula Rothe (Edinburgh/GB), Veiling in Pannonia − a foreign dress element?
10.00 Gerald Grabherr (Innsbruck/A), Identität oder Technologie − Scharnieribeln im
zentralen Alpenraum
11.00 Bernhard A. Greiner (Weinstadt/D), Auf Besuch im Imperium Romanum
11.30 Thomas Schierl (Frankfurt/D), Celtici in Iberia − Der Südwesten der Iberischen
Halbinsel zwischen „Keltisierung“, römischer Okkupation und Etablierung einer
neuen Infrastruktur (2. Jh. v. Chr. − 1. Jh. n. Chr.): eine Ereignisgeschichte im
Spiegelbild der Fibelfunde
14.00 Marko Dizdar, Asja Tonc (Zagreb/HR), Finds of ibulae from the 1st cent. BC in
Croatia: Trade and exchange between the Eastern Alps, Danube and the North
Adriatic region before and during Roman conquest
14.30 Peter Gamper (Dellach/A), Die Idrija-Gruppe. Neuinterpretation einer
„spätlatènezeitlichen“ Kulturgruppe aufgrund der Forschungsergebnisse zum FWFProjekt „Die Romanisierung des Alpe-Adria-Raumes“ (Projekt-Nr. P20598-G03)
15.30 Bernd Steidl (München/D), Die Augenibeln Almgren 45-47 in Raetien und den
Nordwestprovinzen − Eine Sachform als Spiegel historischer Vorgänge?
16.00 Gabriele Rasbach (Frankfurt/D), Zuhause in der Fremde − der augusteische Fundplatz
Waldgirmes
16.30 Anna Haralambieva (Varna/BG), Aucissaibeln mit Inschriften aus den Provinzen
Moesia Inferior und Thracia
Donnerstag/Thursday 28. April 2011
09.00 Eckhard Deschler-Erb (Zürich/CH), Fibeln aus Augsburg-Oberhausen
09.30 Stefan Demetz (Bozen/I), Das Frauengrab von Avenches-Chaplix. Zur Westverbreitung
früher norisch-pannonischer Fibelformen
10.00 Salvatore Ortisi (Köln/D), Fibeln des mittleren Donauraums in Raetien
Posterpräsentationen/poster session
11.00 Stephan Leitner (Bozen/I), Zur Formenvielfalt des Fibeltyps Jobst 4F
11.30 Präsentation der Datenbank FIRE/presentation of the database FIRE (Fibulas In the
Roman Empire)
8
14.00 Mónika Merczi (Esztergom/H), Knieibeln mit Kopfplatte im nordöstlichen Pannonien
14.30 Anton Höck (Innsbruck/A), Zur Ringibel mit seitlich aufgerollten Enden
15.30 Führung durch die archäologische Schausammlung des Tiroler Landesmuseums
Ferdinandeum durch Kustos Mag. Wolfgang Sölder
Guided tour through the archaeological collection of the Tirolean State Museum
Ferdinandeum by custos Mag. Wolfgang Sölder
19.00 Empfang in der Abgusssammlung/Reception in the plaster cast collection of the
archaeological Institute
Freitag/Friday 29. April 2011
09.00 Fraser Hunter (Edinburgh/GB), The development and distribution of brooches in and
beyond the frontier zone of Roman Britain
09.30 Frances McIntosh (Newcastle upon Tyne/GB), The Wirral Brooch: a regional and rural
brooch type
10.00 Lindsay Allason-Jones (Newcastle upon Tyne/GB), Missing Brooches, Missing People
11.00 Felix Lang, Jan Cemper-Kiesslich, Doris Knauseder (Salzburg/A), Fremde Fibeln
− wandernde Menschen. Überlegungen zu Korrelationen kulturhistorischer,
molekulargenetischer und physikalisch-chemischer Typologien
11.30 Daniel Peters (Frankfurt/D), Anne-France Maurer und Corina Knipper (Mainz/D),
Fremde Fibeln = fremde Frauen? Fallbeispiele archäologischer Verbreitungen und
naturwissenschaftlicher Herkunftsbestimmungen des frühen Mittelalters
14.00 Romana Erice Lacabe (Zaragoza/E), Drei Fibeln als Fremdstücke im mittleren Ebrotal
(Aragon, Spanien)
14.30 Kristian Elschek (Nitra/SK), Ausgewählte römische Fibeltypen vom slowakischen
Marchgebiet im Limesvorfeld von Carnuntum und ein neues germanisches
Fürstengrab der „Lübsow-Gruppe“ von Zohor
16.00 Martina Paul (München/D), Überlegungen zur Herkunft und Verbreitung von zwei
spätrömischen Fibel- und Gürtelformen aus Augusta Vindelicum/Augsburg
16.30 Maurizio Buora (Udine/I), Zwiebelknopfibeln des Typs Keller 6: Verbreitung und
status questionis
17.00 Abschlussdiskussion/inal discussion
Samstag/Saturday 30. April 2011
Exkursion zum Brandopferplatz am Piller Sattel und Besuch des Museums in Fließ/Excursion
to the burnt offering site at the Piller Sattel and a visit to the Fließ Museum
9
Ursula Rothe
Die norisch-pannonische Tracht −
gab es sie wirklich?
Ursula Rothe
Die norisch-pannonische Tracht − gab es sie wirklich?
Ursula Rothe, Milton Keynes
Im Jahre 1965 schrieb Jochen Garbsch in der Einleitung seines aus seiner Promotion entstandenen Buches über die Frauentracht der römischen Donauprovinzen: „Eine zusammenfassende Arbeit über die norisch-pannonische Frauentracht der beiden ersten nachchristlichen Jahrhunderte, der einzigen deutlich faßbaren einheimischen Nationaltracht im
römischen Imperium dieser Zeit, scheint angesichts der selten günstigen Quellenlage ein
naheliegendes Thema zu sein, begegnet diese Tracht doch sowohl auf zahlreichen Grabsteinen der beiden Provinzen wie auch in den Inventaren gleichzeitiger Gräber.“1
Die Quellenlage für die Tracht in Noricum und Nieder- und Oberpannonien (im
folgenden Pannonien genannt) ist in der Tat außergewöhnlich günstig: mit seinen ungefähr
1.500 Grabporträts und reich ausgestatteten Grabinventaren, und in Zusammenhang mit der
Tatsache, dass die Tracht des Gebiets anders als in manchen anderen Teilen des Reiches durch
die römische Epoche hinweg große Mengen an Metallgegenständen beinhaltete, gibt es kaum
ein römisches Gebiet, das einem Trachtforscher mehr Möglichkeiten bietet. Insofern war das
Zusammentragen der diversen Quellen in einem gesamten Werk durch J. Garbsch nicht nur
eine wahre Pionierleistung, sondern auch eine, die berechtigterweise eine beträchtliche und
nachhaltige Auswirkung gehabt hat. Nichtsdestotrotz, das Werk wurde vor fast einem halben Jahrhundert geschrieben, und eine frische Sicht auf die im Werk enthaltenen Ansätze
erscheint durchaus berechtigt. Dass die einheimische Frauentracht in den mittleren Donauprovinzen nicht die „einzig deutlich fassbare im römischen Imperium” der ersten zwei nachchristlichen Jahrhunderte war, wie J. Garbsch behauptete, ist inzwischen hinlänglich bekannt.
Die römische Grabkunst beispielsweise aus Niedergermanien, Gallien und Syrien zeigt uns die
Vielfalt an regionalen Kleiderensembles, die nach der Eroberung in verschiedenen Teilen des
Reiches weiterhin existiert haben. Auch J. Garbschs Gebrauch des Begriffes ‚Nationaltracht’
im oben aufgeführten Zitat erscheint heutzutage etwas anachronistisch. Doch der viel grundlegendere Aspekt der Arbeit von J. Garbsch ist die Annahme einer vereinigten norisch-pannonischen Identität, einer „selbstständigen Trachtprovinz“2 also, die alle Gebiete innerhalb
dieser Provinzen ein-, und alle Gebiete außerhalb ausgeschlossen hat. In diesem Beitrag geht
es darum, diese Sicht der Dinge genauer zu analysieren. Obwohl die Arbeit von J. Garbsch Pioniercharakter hatte, stand sie auch in einer wissenschaftlichen Tradition, die gewissermaßen
die Interpretationsansätze mit geprägt hat; es ist deswegen nötig, diese Grundlage zuerst zu
erläutern, bevor wir anschließend den Inhalt des Konzepts genauer untersuchen.
Die Geschichte der Forschung zur ‚norisch-pannonischen Tracht’
Die erste Beschreibung von Trachtbestandteilen als ‚norisch-pannonisch’ scheint im grundlegenden Werk zu den nordeuropäischen Fibelformen von O. Almgren
(1897) zu inden zu sein. Davor hatten Forscher diese Gegenstände mit ihren unmittelbaren
Fundgebieten in Zusammenhang gebracht, wie z.B. J. Hampel, der die Flügelibel als ‚pannonisch’ bezeichnet hat. Almgren fügte als erster die beiden Provinzen Noricum und Pannonien zusammen, in dem er über die „in den norischen und pannonischen Fundorten so ungemein häuige Flügelibel’“3 (seine Nr. 238) schrieb und die „ebenfalls norisch-pannonische
Serie“ − seine Nr. 236−237 −, die sogenannten ‚Doppelknopfibeln’4. Doch durchgesetzt hat
1
Garbsch 1965, 1.
2
Garbsch 1965, 134.
3
almGren 1897, 108.
4
almGren 1897, 109.
34
Die norisch-pannonische Tracht − gab es sie wirklich?
sich diese Einteilung noch nicht. Im Jahre 1919 schrieb die Ungarin M. Láng über die ‚Pannonische Frauentracht’ in einem Beitrag in den Österreichischen Jahresheften, die sowohl
Kleidungsstücke wie auch Fibeln behandelte. Dieser Beitrag gibt uns die ersten Anzeichen,
dass politische Einstellung auch bei der Interpretation der donauländischen Tracht eine Rolle spielen konnte, denn obwohl Láng Vergleiche mit Trachtgruppen in Gallien gezogen hat,
wurde das nahegelegene und reich mit ähnlichen Trachtquellen ausgestattete Noricum im
Beitrag nicht erwähnt. Láng beschrieb auch Trachtbestandteile, die sowohl auf norischen
wie auf pannonischen Steinen abgebildet waren als pannonisch. Die von Frauen in diesem
Gebiet getragene Unter- und Obertunika-Kombination, zum Beispiel, wurde als „speziisch
pannonisch“5 beschrieben, wie auch die Flügelibel („echt pannonisch“6). Dies trifft sogar für
Beschreibungen von Steinen aus Noricum zu: In ihrer Diskussion über das Medaillonporträt
eines Ehepaares aus St Johann bei Herberstein trägt die Frau nach Láng eine Kleidung „ganz
nach pannonischer Art“7; das Mädchen auf dem Relief in St. Peter in Holz ist „[e]benfalls in
pannonischem Stil“ gekleidet8. Es ist schwer sich vorzustellen, dass hier nicht ein gewisses
ungarisches Nationalgefühl mit hineingespielt hat, in einer Zeit, in der gerade dieses einen
Höhepunkt erreichte: Die letzten Jahrzehnte der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie waren unter anderem gekennzeichnet durch wiederholte Versuche seitens der Ungarn,
mehr Mitspracherechte bzw. Unabhängigkeit von Wien zu erlangen. Im Jahre des Beitrages
von Láng war das habsburgische Reich im Folge des ersten Weltkriegs zerbrochen, und Ungarn selbst war von einem Kampf zwischen Monarchisten, Kommunisten und Nationalisten
ergriffen. Der Vertrag von Trianon (1920) und der Verlust Ungarns von großen Teilen ihres
bisherigen Gebietes erschwerte die Lage noch zusätzlich.
Fast zur gleichen Zeit publizierte in Österreich Rudolf Egger seinen Führer
durch die Sammlung des Museums in Klagenfurt (1921) und beschrieb die von O. Almgren
noch ‚norisch-pannonisch’ genannte Flügelibel als ‚norisch’. Zwei Jahre später erschien A.
Schobers Werk über die Grabsteine von Noricum und Pannonien (1923). Schober beschrieb
zwar die Flügelibel als ‚norisch-pannonisch’, doch gewinnt man den Eindruck, dass seine
Auswahl der behandelten Provinzen eher logistisch bedingt war, da er den Großteil der Vorarbeit für das Buch vor den durch den ersten Weltkrieg veränderten Verhältnissen geleistet
hatte.9 Auch auf ungarischer Seite haben einige die Fibeln als ‚norisch-pannonisch’ angesehen: Im Jahre 1928 schrieb L. Nagy, dass bei der donauländischen Frauentracht „die großen Fibeln, die von Hampel pannonisch genannt wurden, aber richtiger pannonisch-norisch
genannt werden könnten“ eine wichtige Rolle spielten10. Es bezieht sich jedoch der Begriff
‚norisch-pannonisch’ bis hierhin lediglich auf die Doppelknopf- und Flügelibel.
Die erste Publikation, die auch die Kleidungsstücke mit einbezogen und den
Begriff der ‚Norisch-Pannonischen Tracht’ geprägt hat, war Band 2 des Steirischen Trachtenbuches, das vom Folkloristen Viktor von Geramb geschrieben wurde (1933). Ihm zufolge war
die Begründung des Werkes wie folgt:
„Bei der folgenden Untersuchung kommt es uns ja nur darauf an, erstlich zu zeigen, daß die im vorigen Hauptstück behandelten U r t r a c h t e n tatsächlich auch in der
Römerzeit auf unserem Boden nachzuweisen sind, zweitens klarzustellen, daß wir schon für
diese frühe Zeit von wirklichen gautrachtlichen Besonderheiten reden dürfen.“11
5
lánG 1919, 254.
6
lánG 1919, 210.
7
lánG 1919, 253 Abb. 112 und Zitat 254.
8
lánG 1919, 254 Abb. 113.
9
schober 1923, 5.
10
naGy 1928, 347.
11
von
Geramb 1933, 122.
35
Ursula Rothe
Von Geramb sah seine „gautrachtlichen Besonderheiten“ vor allem in den unterschiedlichen Arten von Hüten, die in verschiedenen Regionen getragen wurden, und prägte
einige der mit ihnen verbundenen Begriffe, die heute noch im Gebrauch sind. Doch die
Hauptfunktion dieses Buches war es, eine uralte einheimische Identität für den ostalpendonauländischen Raum herzustellen; ein Zusammenhang mit der zunehmenden Beschäftigung mit der österreichischen Identität in Folge des Untergangs des habsburgischen Reiches
in dieser Zeit ist damit unverkennbar. Es ist durchaus mit einem im späten 19. und frühen
20. Jahrhundert gängigen Strom von österreichischem Nationalismus in Einklang zu bringen
− der zum Beispiel Der Zigeunerbaron von Strauss hervorgebracht hat −, der Ungarn sehr
gern als Teil von Österreich sah12. Für V. von Geramb verschmolzen Noricum und Pannonien
zusammen in römischer Zeit in ein „Mischvolk“ mit einer „eigenartigen Provinzialkultur“13.
Doch das Bild eines norisch-pannonischen „Mischvolkes“ mit dazugehöriger Tracht
herrschte nur noch auf österreichischer Seite: In ihrem Fibelcorpus von 1937 beschrieb beispielsweise Ilona Kovrig die Flügelibel − ihre Gruppe II − als “pannonisch”, mit dem Zusatz
dass sie (offensichtlich ihrer Meinung nach fälschlicherweise) „von österreichischen Forschern ‚norische’ oder ‚norisch-pannonische’ Flügelibel genannt“ wurden14. In der Nachkriegszeit und während des Kalten Krieges blieb die ungarische Forschung auf Pannonien
fokussiert. Nun war sie nicht nur durch nationale Grenzen von Österreich getrennt, sondern
auch durch den Eisernen Vorhang. Jenő Fitz’ detaillierte Behandlung der Tracht der Eraviskerinnen von 1957 blieb beispielsweise auf dieser Region beschränkt, und sah sich nicht als
Teil eines größeren norisch-pannonischen Ganzes.
So war also der historische Hintergrund, mit dem Jochen Garbsch seine Arbeit in
den frühen 1960ern begann. Mit seiner Konzeption einer ‚Nationaltracht‘, die ein vereintes
Noricum-Pannonien zum Ausdruck brachte, machte J. Garbsch gewissermaßen dort weiter,
wo V. von Geramb 1933 aufgehört hatte; V. von Gerambs Vorstellung von Noricum-Pannonien
als einer Art proto-Österreich-Ungarn schwang somit unweigerlich auch bei J. Garbsch mit.
Auch die Wahl der alten Bezeichnungen für seit Jahrzehnten schon slawisierte bzw. ungarisierte Ortsnamen deutet auf einen etwas nostalgischen Zugang zum Sachverhalt, eine Tatsache, auf die Rezensenten des Buches von jenseits des Eisernen Vorhangs natürlich sofort gestürzt sind15. Doch J. Garbschs Konzipierung einer sowohl aus Kleidungsstücken wie auch aus
Fibeln und einer Gürtelart bestehende ‚norisch-pannonische Frauentracht‘ fand im Westen
sofort Anklang und bleibt bis heute das maßgebende Konzept auf dem neue Arbeiten − seit
1989 auch auf ungarischer Seite − basieren. Wie stichhaltig seine Argumente jedoch sind, gilt
es im folgenden zu überprüfen.
Die Deinition der ‚norisch-pannonischen Frauentracht’ durch J. Garbsch
„Von einer norisch-pannonischen Frauentracht zu sprechen ist berechtigt wegen
der in beiden Provinzen zu beobachtenden Sitte, über einem bis zu den Füßen reichenden
Unterkleid ein kürzeres, in der Regel ärmelloses Kleid zu tragen, das an den Schultern von
zwei Fibeln der Form A236/7 oder 238, in der Mitte von einem Gürtel zusammengehalten
wird. Weitere, im einzelnen wechselnde Bestandteile dieser Tracht sind ein über die Schultern geworfener Umhang, eine Kopfbedeckung, Hals- und Brustschmuck in Form von Ringen,
Perlen, Ketten, Bändern, Broschen und Anhängern sowie Armringe.“16
12
Siehe z.B. crittenden 1998.
13
von
14
KovriG 1937, 108.
Geramb 1933, 124. Vgl. Jantsch 1935, der nur norisches Material behandelte.
15
Grünert 1967, 190: „Angaben wie ‚Vbl. Königsberg’ oder ‚Breslau’ mit pedantischem Zusatz der [alten] Katalognummer machen die Folgen des 2. Weltkrieges ebensowenig ungeschehen, wie das Beharren auf den politischen
Grenzen und der administrativen Gliederung Europas von 1937.“
16
Garbsch 1965, 119.
36
Die norisch-pannonische Tracht − gab es sie wirklich?
Diese so von J. Garbsch aufgelisteten Bestandteile der norisch-pannonischen
Frauentracht müssen also einzeln überprüft werden. Die in „beiden Provinzen zu beobachtende Sitte“, ein Unterkleid, ein ärmelloses Oberkleid mit Fibeln und Gürtel, ein Umhang
und eine Haube zu tragen kann auch in anderen Provinzen beobachtet werden. Sie bildet die
Grundkombination der Frauenbekleidung im ganzen eisenzeitlichen Nordwest- und Zentraleuropa17. Auf provinzialrömischen Grabsteinen ist sie am deutlichsten in der sogenannten
‚Menimanetracht‘ des Rheinmoselgebietes zu sehen18, indet sich aber auch auf Grabsteinen aus Dalmatien,19 Raetien20 und Dakien21. Die paarweise getragene Fibeln, die auf diese
Kombination hindeuten, weisen eine lange, möglicherweise bis in die Bronzezeit zurück zu
verfolgende Tradition auf22, und man begegnet dem Kleiderensemble wieder am Ende der
römischen Zeit in der Tracht der frühen Angelsächsinnen23 und Wikingerinnen24. Ein großes
Problem für die Interpretation der Tracht im mittleren Donauraum ist der Mangel an lokalen
vorrömischen Belegen im Sinne von entsprechenden Fibelkombinationen, der dem Mangel an
späteisenzeitlichen Gräbern in der Region im Allgemeinen entspricht25; aus letzterem Grund
und angesichts ihrer langen Geschichte soll die Grundzusammensetzung der Frauentracht
aber nicht notwendigerweise als eine Innovation der römischen Zeit angesehen werden26.
Doch für J. Garbsch viel wichtiger war nicht die Zusammensetzung der Trachtbestandteile, sondern ihre Formen. Für ihn galten die Doppelknopf- und Flügelibel als norisch-pannonische „Nationalibeln“27, und bildeten zusammen mit einem aus verschiedenen
Metalldekorteilen von ihm zusammengesetzte Gürtel mit drei herabhängenden Riemen (Abb.
1)28 die Hauptmerkmale der norisch-pannonischen Tracht. Doch die Verbreitung dieser Gegenstände wie sie von Garbsch selbst kartiert wurde ist nicht auf Noricum und Pannonien
beschränkt (Abb. 2). Es fanden sich beträchtliche Mengen in Böhmen und an der Ostseeküste, sowie auch in Raetien und jenseits der Donau in der heutigen Slowakei. Während die
ersten beiden Regionen vielleicht handelsbedingte Ausreißer sind29, ist die weite Verbreitung in benachbarten Gebieten wie der Slowakei und vor allem in Raetien für die Idee,
dass die genannten Trachtbestandteile ‚norisch-pannonisch’ waren, schwerwiegender. Wie
wir inzwischen dank detailreicher Studien wissen, spielten zumindest die Doppelknopf- und
Für einen guten Überblick des Ensembles in der Vorgeschichte, siehe Grömer 2010, v. a. 391−96, aber auch hald
1950; Munksgaard 1974; gebühr 1976; schlabow 1976; von kurzynski 1996; ČreMošnik 1964; wild 1985, 394; 412; rothe
2009, 34−37.
17
18
Z.B. LUPA 16484, 16485, 16486, 16496 und boppert 1992, 27f. u. Abb. 6. Siehe hierzu auch Wild 1985, 393-398;
böhme-schönberGer 1995; rothe 2009, 45-46.
19
Siehe ČreMošnik 1964.
20
Z.B. LUPA 6352, 6354 und 6437.
21
Z.B. LUPA 15097, 17360.
Jacobsthal 1956, 116, ig. 123, 331, 332, 338, 340, 341, 342; ČreMošnik 1964; hägg 1996, 136−38. Auch Garbsch hat
auf die lange Geschichte der paarweise getragene Fibeln hingewiesen: Garbsch 1965, 77 fn. 111.
22
23
oWen-crocKer 2010, 35−103, v. a. 42−56.
24
hägg 1983; 1984, v. a. 168 f.
25
Urban 1992.
26
Für eine Diskussion hierzu, siehe Faber/JileK 2006, 154.
27
Garbsch 1994, 255.
28
Die Platten mit Durchbruchornamentik und ‚Bootapplikationen‘ wurden zunächst zusammengelegt von naGy
1928, und von noll 1957 weiterentwickelt. Garbsch fügte dann die hufeisenförmige Applikationen und die Bandenden hinzu. Siehe hierzu auch Werner 1977; FürhacKer 1994; Faber/JileK 2006, und vetters 1968 für Skepsis über die
Dazugehörigkeit der sogenannten „Entenbügel“.
29
Garbschs Erklärung, dass ihre Ausbreitung mit der Wanderung der Boier zwischen Böhmen und dem Leithawinkel
und der dadurch entstandenen starken Handelsbeziehungen erscheint hier plausibel (Garbsch 1965, 129−132), obwohl siehe auch Einwände bei Fitz 1966, 150.
37
Ursula Rothe
Abb. 1: Rekonstruktion des ‚norisch-pannonischen Gürtels’ durch Garbsch 1965; M 1:3.
Flügelibel in der Tracht der sogenannten Heimstettener Gruppe in Frauengräbern Raetiens
eine zentrale Rolle30. Auch das fast völlige Fehlen der Fibeln und Gürtel in der ganzen südöstlichen Hälfte von Pannonien lässt die ‚pannonische’ Seite von ‚norisch-pannonisch’ etwas
schwächer erscheinen.
Die chronologische Entwicklung der Doppelknopf- und Flügelibel hilft der Idee,
dass sie ein vereintes Noricum-Pannonien symbolisierten, auch nicht gerade weiter. Die frühesten Formen scheinen im Save-Drau-Gebiet in Südostnoricum aufgekommen zu sein (Abb.
3), verbreiten sich aber im Laufe des 1. Jahrhunderts über das Gebiet des vorrömischen Regnum Noricum (mit dem westlichen Streifen der späteren Provinz Pannonien) und vor allem
nach Raetien (Abb. 4)31. Erst im späten 1. bzw. 2. Jahrhundert inden sie sich überhaupt in
ernstzunehmenden Mengen weiter im Osten im eigentlichen Pannonien, und dann nur im
Norden (Abb. 5)32. Auch die Gürtelbestandteile inden sich fast ausschließlich in Noricum und
im anschließenden Grenzgebiet von Pannonien, im Gebiet also des früheren Regnum Noricum33. Schon H. Vetters hat in seiner Rezension zu Garbsch darauf hingewiesen, dass hier
„hervorzuheben gewesen [wäre], daß dieses Gebiet einst norisch war!“34 Die Verbreitung der
30
reinecKe 1957; Garbsch 1974; Keller 1984; volpert 2001.
31
Für die Verbindung zwischen Noricum und Raetien in vor- und frührömischer Zeit siehe
32
Siehe hierzu schon naGy 1928, 347.
33
Garbsch 1965, Karten 14−16.
34
vetters 1968, 147.
38
von
schnUrbein 1982.
Die norisch-pannonische Tracht − gab es sie wirklich?
Abb. 2: Verbreitung der ‚norischen-pannonischen’ Trachtbestandteile nach Garbsch 1965.
Kernbestandteile von J. Garbschs ‚norisch-pannonische Frauentracht’ deuten also schwerlich auf eine ‚Nationaltracht’, die die Provinzen Noricum und Pannonien gänzlich vereint
hat, und die folglich nur vereinzelt außerhalb dieser Provinzen hätten auftreten dürfen.
39
Ursula Rothe
Abb. 3: Verbreitung der frühesten Doppelknopf- und Flügelibeln nach demetz 1999.
40
Die norisch-pannonische Tracht − gab es sie wirklich?
Abb. 4: Verbreitung der Doppelknopf- und Flügelibeln im 1. Jahrhundert nach Chr. nach demetz 1999.
41
Ursula Rothe
Die Einteilung der Tracht durch J. Garbsch
Soweit zum großen Bild der ‚norisch-pannonischen Frauentracht’; doch diese bestand auch aus kleineren Elementen, bei denen Garbsch versuchte, Unterschiede in der Art
der weiblichen Kopfbedeckung auf Grabsteinen (die zuvor auch V. von Geramb beschrieben
hatte) mit verschiedenen Typen und Subtypen von Doppelknopf- und Flügelibel in regionalen
„Trachtgruppen“ zu vereinen35. Seine eigenen Karten im Buch von 196536 und in seinem
Beitrag in ANRW von 198537 zeigen jedoch, wie wenig diese miteinander übereinstimmen.
Sogar Garbsch selbst hat zugegeben: „Bei kleinräumiger Betrachtung müssen wir feststellen, daß nur selten einem Gebiet mit einer bestimmten Form der Kopfbedeckung auch eine
eigentümliche Fibel- oder Gürtelform zugewiesen werden kann.”38 Auch wenn man nur die
einzelnen Fibeltypen separat betrachtet, geben sie kein Bild ab, das auf klar umgrenzbare
Regionaltrachten schließen lässt (Abb. 5). Im Gegenteil, die Häufung in bestimmten Städten
und die beträchtliche Ausbreitung entlang der Donau und der Hauptstraßen lassen auf Wirkungskreise und Handelsnetzwerke von verschiedenen Fibelwerkstätten schließen.
Im Gegensatz hierzu zeigen J. Garbschs Kopfbedeckungen ganz klare regionale
Gruppierungen39. Es erscheint also schon auf der Basis dieser Arbeit von 1965 als methodologisch gründlicher, die Fibeln und die textilen Gewänder (inklusive die Hauben) separat zu
betrachten40. Aus diesem Grund hat sich die Autorin einer neuen, umfassenden Typologie der
(männlichen und weiblichen) Bekleidung auf den Grabsteinen der mittleren Donauprovinzen
gewidmet41, in der unter anderem die Typologie der Frauenbekleidung erheblich erneuert
und ausgeweitet wurde. So kommen zu den verschiedenen (neu eingeteilten) Kopfbedeckungen auch regional umgrenzte Formen der Obertunika hinzu, die zusammen mit jenen
das Bild eines klaren Zusammenhangs zwischen regionalen Identitäten und Gewandformen
weiter unterstreichen, zumal diese im Gegensatz zu den Fibeln über einen viel längeren
Zeitraum relativ unverändert getragen wurden42.
Wenn die Verbreitung der Fibelformen mit der Wirkungsbreite einzelner Werkstätten zusammenhängen würde, entsprächen die Typen und Subtypen nicht regionalen
Trachten, sondern künstlerischen Innovationen verschiedener Handwerker, die in bestimmten Phasen sich einer Beliebtheit erfreuten, und so als Mode (im strengsten Sinne) zu verstehen wären. So kommen wir zum letzten Kritikpunkt am Garbschen Konzept der ‚norischpannonischen Frauentracht’: die Auswahl seiner Gegenstände. Denn wie bereits J. Fitz in
seiner Rezension zu Die Norisch-Pannonische Frauentracht im Jahre 1966 aufgezeigt hat43,
wurde von den einheimischen Frauen der Provinzen Noricum und Pannonien eine viel größere Auswahl an Fibeln und Gürteln getragen als die drei Sorten, die J. Garbsch zu seiner
Tracht zusammengefasst hat. Die Auswahl dieser drei Sorten von Kleideraccessoires gibt
somit ein verzerrtes Bild wieder, denn zu den vielfältigen Modeveränderungen in den Typen der Doppelknopf- und Flügelibeln kommen eine Reihe ganz anderer Fibeln hinzu, die
sowohl in archäologischen Kontexten als auch auf Grabsteinen zu inden sind, und mitunter
Garbsch 1965, 119−127 und 122 Abb. 59. Für die Frage in wieweit man diese als ‚ethnische‘ oder ‚stammesbezogene‘ Trachten ansehen konnte, siehe Garbsch 1965, 125−126 und Ettlingers Rezension des Buches im Jahr 1966.
35
Garbsch 1965, Karten 3−9. Karte 3 zeigt die Verbreitung der verschiedenen Typen von Mädchendarstellungen,
die aber vor allem auch durch die Kopfbedeckung unterschieden werden.
36
37
Garbsch 1985, Karten 10−11.
38
Garbsch 1965, 121.
39
Garbsch 1965, Karte 4.
40
Siehe hierzu schon Fitz 1957.
41
rothe im Druck.
42
rothe im Druck, Karten 2, 4, 5, 6 und die Unterkapitel ‚Overtunic’ und ‚Hats’.
43
Fitz 1966.
42
Die norisch-pannonische Tracht − gab es sie wirklich?
Abb. 5: Verbreitung der Doppelknopf- und Flügelibeln im späten 1. und 2. Jahrhundert nach Chr.
nach Garbsch 1985.
43
Ursula Rothe
auf den Schultern getragen wurden, wie zum Beispiel Anker-44, Scheiben-45, Pelta-46, Knie-47
und schlichtere kräftig proilierte Fibeln48, sowie auch recht eigentümliche Sorten, wie z.B.
in der Form einer Eichel49 oder mit einer Reihe an Anhängern50, und dies ganz von anderen
Schmuckteilen wie Torques, Armringe und Pektoralschmuck zu schweigen. Im Gebiet des
Donauknies erschien für einige Jahrzehnte in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts51 eine bemerkenswerte Gattung von Fibeln, die meist als ‚Plattenibel’ oder ‚Maskenibel’ bezeichnet
werden, und die aus größeren, verzierten Blechplatten in verschiedenen Formen bestanden
mit gelegentlichem Zusatz von efeuförmigen Anhängern52. Obwohl die klar umgrenzte regionale Verbreitung dieser Fibeln zu einer Interpretation als ethnischer Indikator verleiten
könnte, waren sie zu kurzlebig, um eine solche Funktion erfüllt zu haben. Im Rahmen einer
solchen Interpretation wären Grabsteine, auf welchen Mütter und Töchter zusammen in der
gleichen regionalen Bekleidung und Kopfbedeckungen abgebildet werden, die jedoch verschiedene Arten von Fibeln tragen, auch schwer zu erklären53.
Das oben Beschriebene gilt gleichermaßen für Gürtel, denn der von J. Garbsch
rekonstruierte Gürtel mit drei Riemen war nur einer von vielen, die von den Frauen in Noricum und Pannonien mit ihrer einheimischen Kleidung zusammen getragen wurden. Allein
auf den Grabsteinen erscheinen Schnurgürtel54, schärpenartige Gürtel55, ein aus metallenen
Platten geformte Tablettengürtel56, Gürtel mit dem für die Heimstettener Gruppe in Raetien
charakteristische ‚Sprossengürtelhaken’57 und eine Art ‚versteckter Gürtel’, der von unten
einen Bausch hervorbringt und so unsichtbar bleibt58. Keiner von ihnen zeigt jedoch eine
regionale Gruppierung59.
Schlusswort
In diesem Beitrag ging es darum, die Idee von Noricum und Pannonien als eine
„selbstständige Trachtprovinz“60, wie dies vor allem von J. Garbsch entwickelt wurde, anzuzweifeln, und die sehr wertvolle grundlegende Arbeit dieses Forschers durch neue Interpretationsvorschläge zu relativieren. Für die Wissenschaft um die metallenen Trachtbestandteile sind die oben beschriebenen Verhältnisse in einem gewissen Sinne etwas ernüchternd:
wenn die verschiedenen Fibeln beispielsweise nicht ‚norisch-pannonische’ oder lokale Gruppenzugehörigkeit, sondern Modebewusstsein zum Ausdruck gebracht haben, macht das die
44
E.g. LUPA 3110; 8816.
45
E.g. LUPA 881.
46
E.g. LUPA 685.
47
E.g. LUPA 448, 1159, 1202, 1260, 1719, 5871.
48
E.g. 837, 878, 1267, 1315, 1609.
49
LUPA 834.
50
LUPA 3723.
51
csontos 1997−1998, 161.
52
Fitz 1957; csontos 1997−1998; 2003.
53
E.g. LUPA 448, 734.
E.g. LUPA 18, 482, 495, 591, 608, 727−728, 835, 887, 897, 902, 904, 914, 1271, 1286, 1328, 1331, 1371, 1427,
1609, 1711, 1717, 2111, 2307, 2371, 2408, 3619, 4156, 4634, 4641, 5667, 6841, 8024.
54
55
E.g. LUPA 62, 399, 691, 715, 717, 770, 776, 788, 802, 1306, 2779, 3112, 3136, 3213, 3217, 3781, 3945, 3956,
4027, 4051, 7017, 9844, 10830.
56
E.g. LUPA 3974.
57
E.g. LUPA 71, 3562. Siehe reinecKe 1957; Garbsch 1974; Keller 1984; volpert 2001.
58
E.g. LUPA 726, 734; 1160, 1203, 1204, 1206, 1219, 1222, 4825, 8511.
59
rothe im Druck, Karte 9.
60
Garbsch 1965, 134.
44
Die norisch-pannonische Tracht − gab es sie wirklich?
Erforschung von Migration und kulturellen Verbindungen zwischen Personengruppen nicht
leichter. Andererseits erhöhten sich dadurch ihr Wert als Quellen für Handwerk- und Handelsgeschichte. Aus einer etwas anderen Perspektive gewinnt die einheimische Frauentracht
der mittleren Donauprovinzen durch die Auffassung von Fibeln und Gürtel als Mode, und
das Einbeziehen anderer Typen, eine Dynamik, die eine gelebte Kleiderwelt wie diese61 gerechter erscheinen lässt als die volkstümliche Idee von statischen Volkstrachten. Bei aller
Vielfalt blieben vor allem die Fibeln, mit ihrer teilweise enormen Größe und aufwändigen
Verzierungen einer sehr unrömischen, vielleicht sogar bewusst einheimischen Ästhetik verhaftet. Von einer ‚norisch-pannonischen Nationaltracht’ bleibt jedoch nicht viel übrig.
Die Provinzen Noricum und Pannonien haben allerdings in diesem Zusammenhang sehr wohl eines gemeinsam, dass auch die Konzeption einer ‚norisch-pannonischen
Tracht’ von Anfang an mit beeinlusst hat: die schier immense Zahl an Darstellungen aus
dem funerären Bereich, die in den Nachbarprovinzen nicht annähernd erreicht werden, und
die es uns erst ermöglichen, die aufwändige und vielgestaltige einheimische Frauentracht
der Römerzeit so detailliert zu erforschen. Es wäre sicher lohnenswert zu versuchen, in der
zukünftigen Forschung zu einem besseren Verständnis der gesellschaftlichen Verhältnisse zu
gelangen, die die große Beliebtheit der römischen Grabsteinsitte gerade in diesen beiden
Provinzen ausgelöst hat.
Abkürzungen
LUPA
ANRW
Ubi Erat Lupa Datenbank für römische Steindenkmäler: http://www.ubi-erat-lupa.org
H. temporini (Hrsg.), Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt
Abgekürzt zitierte Literatur
almGren 1897
O. almGren, Studien über nordeuropäische Fibelformen der ersten nachchristlichen Jahrhunderte
(Stockholm 1897).
böhme-schönberGer 1995
a. böhme-schönberGer, Das Mainzer Grabmal von Menimane und Blussus als Zeugnis des Romanisierungsprozess. In: W. czysz/c.-m. hüssen/h.-p. KUhnen/c. sommer/G. Weber (Hrsg.), Provinzialrömische Forschungen.
Festschrift für Günter Ulbert zum 65. Geburtstag (München 1995) 1−11.
boppert 1992
W. boppert, Corpus Signorum Imperii Romani, Deutschland II,6: Germania Superior: Zivile Grabsteine
aus Mainz und Umgebung (Mainz 1992).
ČreMošnik 1964
i. ČreMošnik, Die einheimische Tracht Noricums, Pannoniens und Illyricums und ihre Vorbilder. Latomus
23, 1964, 760−773.
crittenden 1998
c. crittenden, Whose patriotism? Austro-Hungarian relations and Der Zigeunerbaron. Musical Quarterly
82, 1998, 251−278.
csontos 1997−1998
K. csontos, Pannonian plated ibulas. Antaeus 24, 1997−1998, 157−168.
csontos 2003
K. csontos, Cicada brooches on Pannonian stone monuments. Pannonica (Budapest 2003) 103−112.
61
Die vielen Streufunden von metallenen Bestandteilen der Tracht auf Siedlungsplätzen lassen hierauf schließen;
siehe die entsprechenden Fibelcorpora von pateK 1942; Jobst 1975; GUGl 1995; sedlmayer 1995; 2009; schmid 2010.
45
Ursula Rothe
demetz 1999
s. demetz, Fibeln der Spätlatène- und frühen römischen Kaiserzeit in den Alpenländern. Frühgesch. u.
Provinzialröm. Arch. Mat. u. Forsch. 4 (Rahden 1999).
ettlinGer 1966
e. ettlinGer, Rez. zu Garbsch: Die norisch-pannonische Frauentracht im 1. und 2. Jahrhundert. Bonner
Jahrb. 166, 1966, 654−656.
Faber/JileK 2006
a. Faber/s. JileK, Das Rollenbild norisch-pannonischer Frauen und seine Darstellung in den Gräbern:
drunter und drüber. Bayer. Vorgeschbl. 71, 2006, 149−157.
Fitz 1957
J. Fitz, Az Eraviskusz nöi viselet/Die Tracht der Eraviskerinnen. Arch. Ért. 84, 1957, 133−154.
Fitz 1966
J. Fitz, Rez. zu J. Garbsch: Die norisch-pannonische Frauentracht im 1. und 2. Jahrhundert. Gnomon
38, 1966, 619−625.
FürhacKer 1994
r. FürhacKer, Herstellungstechnische Beobachtungen an zwei durchbruchverzierten Riemenkappen aus
Muttendorf und Ptuj. Nachrichtenbl. Arch. Ges. Steiermark 1994, 19−34.
Garbsch 1965
J. Garbsch, Die norisch-pannonische Frauentracht im 1. und 2. Jahrhundert. Münchner Beitr. Vor- u.
Frühgesch. 11 (München 1965).
Garbsch 1974
J. Garbsch, Ein Flügelibelfragment vom Lorenzberg bei Epfach. Bemerkungen zu Fibeln der Frauentracht von Raetien und Iuvavum. In: G. KossacK/G. Ulbert (Hrsg.), Studien zur vor- und frühgeschichtliche Archäologie. Festschr. Joachim Werner zum 65. Geburtstag 1. Münchner Beitr. Vor- u. Frühgesch.
Ergbd. 1 (München 1974) 163−184.
Garbsch 1985
J. Garbsch, Die norisch-pannonische Tracht. ANRW II.12.3, 1985, 546−577.
Garbsch 1994
J. Garbsch, Römischer Alltag in Bayern. Das Leben vor 2000 Jahren. Festschrift 125 Jahre Bayerische
Handelsbank in München 1869−1994 (München 1994).
Gebühr 1976
m. Gebühr, Der Trachtenschmuck der älteren römischen Kaiserzeit im Gebiet zwischen unterer Elbe
und Oder und auf den westlichen dänischen Inseln (Neumünster 1976).
von Geramb 1933
v. von Geramb, Steirisches Trachtenbuch 2: Die norisch-pannonische Tracht (Graz 1933).
Grömer 2010
K. Grömer, Prähistorische Textilkunst in Mitteleuropa (Wien 2010).
Grünert 1967
h. Grünert, Rez. zu J. Garbsch: Die norisch-pannonische Frauentracht im 1. und 2. Jahrhundert.
Ethnogr.-Arch. Zeitschr. 8, 1967, 189−191.
GUGl 1995
ch. GUGl, Die römischen Fibeln aus Virunum (Klagenfurt 1995).
hägg 1983
i. hägg, Viking women‘s dress at Birka: a reconstruction by archeological methods. In: N.B. harte/K.G.
pontinG (Hrsg.), Cloth and Clothing in Medieval Europe (London 1983) 316−350.
hägg 1984
i. hägg, Die Textilfunde aus dem Hafen von Haithabu. Ber. Ausgr. in Haithabu 20 (Neumünster 1984).
hägg 1996
i. hägg, Textil und Tracht als Zeugnis von Bevölkerungsverschiebungen. Arch. Inf. 19, 1996, 135−47.
hald 1950
m. hald, Olddanske Tekstiler. Nordiske Fortidsminder 5 (Kopenhagen 1950).
46
Die norisch-pannonische Tracht − gab es sie wirklich?
Jacobsthal 1956
p. Jacobsthal, Greek Pins and their Connexions with Europe and Asia (Oxford 1956).
Jantsch 1935
F. Jantsch, Norische Trachtdarstellungen in Kärnten. Carinthia I 124, 1934, 65−74.
Jobst 1975
W. Jobst, Die römischen Fibeln aus Lauriacum (Linz 1975).
Keller 1984
e. Keller, Die frühkaiserzeitlichen Körpergräber von Heimstetten. Münchner Beitr. Vor- u. Frühgesch.
37 (München 1984).
KovriG 1937
i. KovriG, Die Haupttypen der kaiserzeitlichen Fibeln in Pannonien (Budapest 1937).
von KUrzynsKi 1996
K. von KUrzynsKi, ‘... und ihre Hosen nennen sie bracas’. Textilfunde und Textiltechnologie der Hallstatt- und La Tène-Zeit und ihr Kontext (Espelkamp 1996).
lánG 1919
m. lánG, Die pannonische Frauentracht. Österr. Jahresh. 19−20, 1919, Beibl., 207−260.
mUnKsGaard 1974
e. mUnKsGaard, Oldtidsgragter (Kopenhagen 1974).
naGy 1928
l. naGy, Szécsény csat. Arch. Értesitö 42, 1928, 215−222, 346 f.
noll 1957
r. noll, Norisch-Pannonische Gürtelbeschläge. Carinthia I 147, 1957, 128−134.
oWen-crocKer 2010
G.r. oWen-crocKer, Dress in Anglo-Saxon England, revised ed. (Woodbridge/Rochester 2004).
von pateK 1942
e. von pateK, A Pannoniai ibulatipusok elterjedése és eredete. Verbreitung und Herkunft der römischen
Fibeltypen in Pannonien (Budapest 1942).
reinecKe 1957
p. reinecKe, Skellettgräber der frühen Kaiserzeit in Raetien. Bayer. Vorgeschbl. 22, 1957, 36−59.
rothe 2009
U. rothe, Dress and Cultural Identity in the Rhine-Moselle Region of the Roman Empire (Oxford 2009).
rothe im Druck
U. rothe, Dress in the middle Danube provinces: the garments, their origins and their distribution.
Österr. Jahresh. [Herbst 2013].
schlaboW 1976
K. schlaboW, Textilfunde der Eisenzeit in Norddeutschland. Göttinger Schr. Vor- u. Frühgesch. 15 (Neumünster 1976).
schmid 2010
s. schmid, Die römischen Fibeln aus Wien. Monogr. Stadtarch. Wien 6 (Wien 2010).
von schnUrbein 1982
s. von schnUrbein, Die kulturgeschichtliche Stellung des nördlichen Raetien. BerRGK 63, 1982, 5−16.
schober 1923
a. schober, Die römischen Grabsteine von Noricum und Pannonien. Sonderschr. Österr. Arch. Inst. 10
(Wien 1923).
sedlmayer 1995
h. sedlmayer, Die römischen Fibeln von Wels. Quellen und Darstellungen zur Geschichte von Wels. Sonderr. Jahrb. Musver. Wels 4 (Wels 1995).
sedlmayer 2009
h. sedlmayer, Die Fibeln vom Magdalensberg. Funde der Grabungsjahre 1948−2002 und Altfunde des 19.
Jahrhunderts. Kärntner Musschr. 79 = Arch. Forsch. Grabungen auf dem Magdalensberg 16 (Klagenfurt
2009).
47
Ursula Rothe
Urban 1992
o.h. Urban, Oppidazeit (Spätlatènezeit). In: J.-W. neUGebaUer/c. neUGebaUer-maresch (Hrsg.), Die Kelten
im Osten Österreichs (St. Pölten/Wien 1992) 118−130.
vetters 1968
h. vetters, Rez. zu J. Garbsch: Die norisch-pannonische Frauentracht im 1. und 2. Jahrhundert. Germania 46, 1968, 146−149.
volpert 2001
h.-p. volpert, Neue Körpergräber der Heimstettener Gruppe. Das arch. Jahr in Bayern 2001, 79−82.
Werner 1977
J. Werner, Spätlatèneschwerter norischer Herkunft. In: B. chropovsKý (Hrsg.), Symposium Ausklang der
Latène-Zivilisation und Anfänge der germanischen Besiedlung im mittleren Donaugebiet (Bratislava
1977) 367−401.
Wild 1985
J.p. Wild, The clothing of Britannia, Gallia Belgica and Germania Inferior. ANRW II.12.3, 1985, 362−423.
Abbildungsnachweis
Abb. 1:
Abb. 2:
Abb. 3:
Abb. 4:
Garbsch 1965, 111 Abb. 58.
Garbsch 1965, Karte 1.
demetz 1999, Karten 7 und 9.
demetz 1999, Karten 8 und 10.
Abb. 5: Garbsch 1985, Karten 10 und 11.
48